03.11.2023

Der "bessere" Teil der Welt: Werte unter Trümmern

In 25 Tagen hat Israel mehr Zivilisten in Gaza getötet als ukrainische Zivilisten seit Beginn der russischen Invasion in der Ukraine am 24. Februar 2022 ums Leben gekommen sind. Mehr als 3.000 getötete Palästinenser waren Kinder, während nach Angaben der Vereinten Nationen 527 Kinder während der russischen Invasion getötet wurden.

Satellitenaufnahmen der Stadt Beit Hanun 1.5. und 21.10.2023
Satellitenaufnahmen der Stadt Beit Hanun 1.5. und 21.10.2023

Der Westen hat auf die russische Invasion in der Ukraine mit Sanktionen, Haftbefehlen und weiteren Maßnahmen reagiert, während er Israels Vorgehen in Gaza-Streifen und West-Jordan-Land kaum kritisiert. Es wird offensichtlich mit unterschiedlichen Maßstäben gemessen, was die Frage nach den Werten des Westens aufwirft. Das tut auch Paolo Becchi, derzeit → ordentlicher Professor für Rechtsphilosophie an der Juristischen Fakultät der Universität Genua. Becchi hat in einem am 2. November 2023 in der → Berliner Zeitung erschienenen → Gastbeitrag die Frage nach den Werten des Westens so kurz und treffsicher aufgegriffen, dass ich seinen Text hier wörtlich wiedergebe:

ZITAT ANFANG

Der Westen solidarisiert sich mit Israel: Aber für welche Werte kämpft er eigentlich?

Wenn der Westen in den Krieg geht, werden unsere Werte zitiert, die wir verteidigen wollen. Aber was ist von diesen Werten geblieben? Nicht viel. Ein Gastbeitrag.

Nach der uneingeschränkten Unterstützung der Ukraine musste sich der Westen auf die Seite Israels schlagen, dem Opfer der Massaker und Terroranschläge der Hamas. Die westlichen Medien haben bereits begonnen, von einem "Angriff gegen den Westen selbst" zu sprechen, von einem Krieg, der alle westlichen Länder betrifft. Uns, so die Vorstellung, wurde von der Hamas der Krieg erklärt, einer Terror-Organisation, die nicht einmal mehr als "Feind", sondern als Bande "menschlicher Tiere" bezeichnet wird.

Der israelische Verteidigungsminister definierte die Mitglieder der Hamas mit deutlichen Worten: Es handle es sich um eine Gruppe wilder Wölfe, die ohne Skrupel getötet werden müssen, da ihr Leben, ein tierisches Leben, kein Recht mehr darauf hat, gelebt zu werden. Wenn man in seinem Feind keinen Menschen mehr erkennt, scheint jede Gräueltat gerechtfertigt zu sein.

Die Berichterstattung über Israel und deren Wandel

An diesem Punkt stellt sich jedoch die Frage: Für welchen Westen kämpfen wir überhaupt und welche "Werte" vertritt dieser Westen? Wohl nicht diejenigen, die sich um die "Menschenrechte" kümmern und um die Verhinderung von kriegerischen Gräueltaten. Das zeigt sich allein, wenn unsere "Feinde" des Westens als Subjekte definiert werden, die man vernichten muss.

Seltsam, dass sich heute kaum jemand mehr daran erinnert, wie vor nur drei Monaten in vielen westlichen Zeitungen Artikel erschienen sind, in denen von Israel als einer illiberalen Demokratie gesprochen wurde, nachdem Netanjahu die Rechte des Obersten Gerichtshofs ausgeweitet hatte, um ohne Widerstände durchregieren zu können.

Unser Traum ist zum Alptraum geworden

Jenseits von Netanjahu und Israel gibt es im Westen genug Demokratien, die ebenso über ein Legitimationsproblem verfügen. Ich frage also: Was ist dieser Westen, den wir verteidigen wollen? Wir kämpfen sicher nicht für jenen Westen, der auf den "Werten" der sogenannten "jüdisch-christlichen Wurzeln" basierte, die in der heutigen Gesellschaft weitgehend unterminiert werden. Worüber reden wir also?

Die Wahrheit ist, dass wir es nicht wissen. Oder besser gesagt, wir wissen, dass wir für einen Westen kämpfen, der sich als "demokratisch", als "beste aller möglichen Welten", als Garant für die Achtung der Menschenrechte legitimiert, ohne dass dies in Wahrheit der Fall wäre. In Wahrheit ist der Traum der allumfassenden Demokratisierung der Welt, ja der Belehrung der Welt zu Ende gegangen oder vielmehr noch: eigentlich zum Alptraum geworden. Wir wollen es einfach nicht wahrhaben, dass wir in Richtung einer multipolaren Welt gehen. Der alleinige Legitimierungsanspruch der westlichen Werte ist ausgeträumt.

Welche Zukunft verspricht uns unser Kampf?

Der Westen erkennt aber diese Veränderung, diese Multipolarität nicht an. Er verharrt in seinen blinden Flecken und geht davon aus, dass die westlichen Werte die einzig richtigen sind. Man könnte provokant sagen: Der Westen fühlt sich immer noch als der bessere Teil der Welt. Diese Idee hat die Geschichte des Westens tief geprägt und sich Seite an Seite mit dem "katholischen" Ideal des Universalismus entwickelt, mit dem Anspruch, eine Wahrheit zu vertreten, die grundsätzlich für alle gilt, um sich schließlich in einem euro-zentristischen Imperium zu verwirklichen.

Aber welche Art von Zukunft verspricht dieser Kampf um unsere Werte, um die Ausweitung unseres Westens, den wir auch heute noch verteidigen? Die Wahrheit ist: Unsere heutige Gesellschaft ist nichts mehr als das sterile Produkt eines weit verbreiteten Nihilismus, ein Spiegel der Entleerung jeglichen Wertes, Spiegel einer destruktiven Finanzwirtschaft, einer Technik mit dem alleinigen Zweck der Selbstoptimierung. Wofür kämpfen wir also?

ZITAT ENDE

Wer seine Gegner entmenschlicht ("menschliche Tiere"), vertritt ein Menschenbild, dass der im deutschen Grundgesetz verankerten Menschenwürde widerspricht. Daran ändert die aktuell beschworene Staatsräson der Bundesrepublik Deutschland ("Die Sicherheit Israels ist deutsche Staatsräson") nichts, ganz im Gegenteil: Das frühere → Verständnis von Staatsräson als staatliche "Vernunft", die sich über Rechte Einzelner hinwegsetzt, ist Geschichte. Heute richtet sich die Legitimation staatlichen Handelns nach der Verfassung. → Artikel 1 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland lautet:

(1) Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.

(2) Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt.

(3) Die nachfolgenden Grundrechte binden Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht.

Dass die Sicherheit Israels heute als deutsche Staatsräson gilt, ist kein Freibrief für Missachtung von Menschenrechten und Völkerrecht in → Palästina. Sind die → "Werte des Westens" unwiderruflich verschüttet unter Trümmern und Leichen?


Satellitenaufnahmen von Izbat Beit Hanun 1.5. und 21.10.2023
Satellitenaufnahmen von Izbat Beit Hanun 1.5. und 21.10.2023

Update:

International Court of Justice, Den Haag: → Application of the Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide in the Gaza Strip (South Africa v. Israel), Order of 26 January 2024

Berliner Zeitung vom 31.01.2024: → Chef der Münchner Sicherheitskonferenz: "Härtere Gangart gegenüber Israel" – Der Diplomat Christoph Heusgen verurteilt die Netanjahu-Politik scharf. Deutschland stehe in der Verantwortung, "das Kind beim Namen zu nennen".


07.04.2020

Financial Blocking und illegale Online-Casinos

Justitias Mühlen mahlen langsam – Zur Durchsetzung des Mitwirkungsverbots bei Zahlungen im Zusammenhang mit unerlaubten Glücksspielen 


RA Martin Reeckmann hat in einer Anmerkung das aktuelle Urteil des Landgerichts Ulm vom 16.12.2019 zum gesetzlichen Mitwirkungsverbot bei Zahlungen im Zusammenhang mit unerlaubten Glücksspielen beleuchtet. Die Urteilsanmerkung ist in Heft 2.20 der Zeitschrift für Wett- und Glücks­spielrecht (ZfWG) erschienen (ZfWG 2020, 179).
Die vollständige Fassung der Urteilsanmerkung ist → hier als PDF verfügbar (PDF, 250 KB).

Hier ein Auszug aus dem Text:

Die Durchsetzung der gesetzlichen Rahmenbedingungen des öffentlichen Glücksspiels in Deutschland stößt seit dem Inkrafttreten des Glücksspielstaatsvertrages (GlüStV) auf Schwierigkeiten, von Beginn an zu besichtigen am Beispiel von unerlaubten Glücksspielen im Internet. Das gilt auch für das mit dem Ersten Glücksspieländerungsstaatsvertrag eingeführte Verbot der Mitwirkung an Zahlungen im Zusammenhang mit unerlaubten Glücksspielen (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Halbs. 2 GlüStV), das von der Zahlungsdienstewirtschaft erst ignoriert wurde und nun gerichtlich bekämpft wird. Nun liegt mit dem Urteil des LG Ulm vom 16.12.2019 erstmals eine gerichtliche Entscheidung vor, die die maßgeblichen Rechtsfragen einschließlich des Spielerschutzes umfassend in den Blick nimmt. ...


07.03.2019

Glücksspielstaatsvertrag: Konstruierte Wirklichkeit oder Problemlösung?

Wie findet man einen tragfähigen Konsens in der Glücksspielregulierung?


Von Dr. Simone Stölzel, Dr. Thomas Stölzel und Martin Reeckmann
Die vollständige Fassung des Aufsatzes ist ➤ hier als PDF verfügbar (PDF, 200 KB).
Hier ein Auszug:

Ein Wahrnehmungsproblem

Seit dem Sportwettenurteil des Bundesverfassungsgerichts vom März 2006 findet sich die Regulierung des Glücksspielwesens wiederkehrend auf der Tagesordnung von Ministerpräsidentenkonferenzen (MPK). Ein Ende des Diskussionsbedarfs scheint nicht in Sicht zu sein. Die wiederholte Beratung und Beschlussfassung ist allerdings nicht einer konstruktiven Lust am Diskurs geschuldet, sondern vielmehr einer Notlage.
Es ist den Bundesländern seit dem Sportwettenurteil des Bundesverfassungsgerichts vom März 2006 nicht gelungen, eine Sportwettenregulierung zu vereinbaren, die der Prüfung vor deutschen Gerichten und dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) standhält und ein stabilisierendes Maß an Rechtsfrieden trägt. In der Zwischenzeit ist die Digitalisierung vieler Lebensbereiche vorangeschritten und hat – neben anderen für die Digitalisierung besonders geeigneten Märkten – auch den Glücksspielmarkt erfasst. Das ungebremste Wachstum der Umsätze mit Sportwetten und Online-Casinospielen (einschließlich Poker) hat ein Ausmaß erreicht, dass die Frage nach dem Nutzen der bisherigen Regulierung aufwirft. Doch schon das Anerkennen eines Vollzugsdefizits scheint nicht Konsens zu sein; erst recht ist die Wahl der vorzugswürdigen Regulierungsinstrumente, etwa ausnahmslose Verbote und Mengenbegrenzungen versus Gewerbefreiheit, umstritten.
Unter dem Druck der Entwicklung besteht Einigkeit der Länder wohl nur noch in zwei Punkten, nämlich der Bewahrung des staatlichen Lotteriemonopols und dem Schutz der Spieler. Bereits hier haben wir es letztlich mit unklaren Punkten zu tun: Was ist mit dem Begriff Lotteriemonopol gemeint, und was ist daran aus welchen Gründen bewahrens- oder gar schützenswert? Was ist unter Spielerschutz zu verstehen, nämlich: Welche Spieler sind vor welchen Effekten mit welchen Mitteln zu schützen? Ohne eine nachvollziehbare Klärung dieser Fragen lässt sich ein tragfähiger Konsens in der Glücksspielregulierung nicht finden. 

Fragen über Fragen

Antworten auf die vorstehenden Fragen sollen hier nicht geliefert werden. Denn Fragen, zu denen sogleich Antworten mitgeliefert werden, verlieren ihre Kraft und behindern eher eine mögliche Änderung der eigenen Wahrnehmung des jeweiligen Problems. Stattdessen werden hier weitere Fragen vorgeschlagen, mit denen grundsätzliche Klärungen, Zielvorstellungen, bisherige Strategien, bestehende Erklärungsweisen, Einflussmöglichkeiten und Zukunftsfragen genauer in Augenschein genommen werden können. 

Wege zu tragfähigen Antworten

Mancher Leser mag hier Antworten vermissen, insbesondere die Lösung, den Vorschlag zur Glücksspielregulierung. Mancher Leser mag die Fragen für sich in seiner Rolle selbst beantworten. Es geht aber auch anders: Bei den hier dargestellten Fragen handelt sich um das erprobte Mittel der systemischen Interventionstechnik, um zirkuläres Fragen. Dabei wird, anders als beim linear kausalen Denken (das auf nachvollziehbare Ursachen-Wirkungsbeziehungen abzielt) "um die Ecke gefragt". Etwa so: "Was glauben Sie, denken unsere Wähler als Verbraucher über unsere Regulierung?"
Dieses Mittel lässt sich auch für das Finden eines tragfähigen Konsenses in der Glücksspielregulierung gut nutzen. Letztlich könnte sich die Überprüfung bisheriger Perspektiven als hilfreich erweisen, um bei der Lösung des Regulierungsproblems weiter zu kommen. Ähnliches gilt für die Anwendung der von Dr. Simone Stölzel und Dr. Thomas Stölzel entwickelten und erprobten Trias Selbstbesinnung Selbstbestimmung Selbstverantwortung.

Download

Der vorstehende Text ist ein Auszug aus:

Dr. Simone Stölzel, Dr. Thomas Stölzel, Martin Reeckmann
Glücksspielstaatsvertrag: Konstruierte Wirklichkeit oder Problemlösung?
Wie findet man einen tragfähigen Konsens in der Glücksspielregulierung?
Berlin, März 2019

Die vollständige Fassung des Aufsatzes ist ➤ hier als PDF verfügbar (PDF, 200 KB).

07.12.2017

EU-Kommission: Glücksspielregulierung bleibt nationale Angelegenheit

Die Europäische Kommission hat heute offiziell mitgeteilt, dass sie alle Vertragsverletzungsverfahren gegen EU-Mitgliedstaaten betreffend Glücksspiel eingestellt hat. Das Gleiche gilt für die Behandlung diesbezüglicher Beschwerden.

Die EU-Kommission weist in ihrer Pressemitteilung vom 7.12.2017 auf ihre politischen Prioritäten hin und teilt deutlich mit, dass
... es nicht zu den Schwerpunkten der Kommission [gehört], die Befugnisse, über die sie für Vertragsverletzungsverfahren verfügt, zur Förderung des EU-Binnenmarkts im Bereich von Online-Glücksspielen einzusetzen.
Weiter heißt es in der Pressemitteilung:
"Auch im Lichte zahlreicher Urteile des Gerichtshofs der EU zu nationalen Glücksspielvorschriften vertritt die Kommission die Auffassung, dass Beschwerden gegen die Glücksspielbranche effizienter durch nationale Gerichte bearbeitet werden können."
Und genau so ist es: Die zahlreich vorliegenden EuGH-Urteile entscheiden nicht die Einzelfälle, sondern präsentieren stets "nur" die mehr oder weniger gleichbleibenden Prüfungsmaßstäbe, an Hand derer die nationalen Gerichte entscheiden sollen.

Die jüngere Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesverwaltungsgerichts sind bekannt.

  • Damit sind die mehrjährigen und wiederholten Versuche von Glücksspielanbietern, die EU-Kommission für die Liberalisierung des Glücksspielmarktes zu instrumentalisieren, gescheitert.
  • Es ist zur Kenntnis zu nehmen, dass Glücksspielregulierung auf nationaler Ebene erfolgt.
  • Die bisherige Strategie vieler Glücksspielanbieter, eine Liberalisierung des Glücksspielmarktes unter Berufung auf EU-Grundfreiheiten (also Freiheitsrechte) zu erzwingen, ist aufgebraucht.
  • Die Stakeholder im Glücksspielwesen sollten vielmehr im offenen Diskurs Vorschläge für eine strikt am Verbraucherschutz orientierte Glücksspielregulierung für Deutschland entwickeln.