10.10.2016

Glücksspiel und Mathematik

Die Fachliteratur zum Glücksspiel behandelt meistens juristische und ökonomische sowie in jüngerer Zeit auch suchtwissenschaftliche Themen. Mathematische und technische Grundlagen des zufallsabhängigen Spiels um Geld finden demgegenüber kaum Beachtung, was manche Fehlvorstellung beim Umgang mit Glücksspielen erklären mag.

Diese Lücke schließt das Buch Spiel, Zufall und Kommerz – Theorie und Praxis des Spiels um Geld zwischen Mathematik, Recht und Realität von Dr. Thomas Bronder, erschienen im Springer Verlag 2016 (ISBN 978-3-662-48828-7, eBook ISBN 978-3-662-48829-4).

Das Buch wendet sich an alle, die mehr über Aufbau und Zusammenhänge des Spiels und seine rechtlichen und mathematischen Rahmenbedingungen wissen möchten. Mathematik, Recht und Technik sind in kaum einem anderen Gebiet so eng miteinander verflochten wie beim Spiel um Geld. Die mathematischen Grundlagen des Glücksspiels gelten im Übrigen in jeder Welt, sei es die reale oder die virtuelle. Es ist aus mathematischer Sicht bedeutungslos, ob ein Zufallsgenerator in Form programmierter Software in einen Glücksspielautomaten oder in einen Webserver für Online-Casinospiele implementiert ist.

Im Zuge der Darstellung lernt der Leser eine Reihe von bekannten Phänomenen klarer einzuschätzen – und Irrtümer zu vermeiden. So werden unter anderem die Unterschiede zwischen Skat und Poker herausgearbeitet. Deutlich wird auch, dass Poker aus mathematischer Sicht stets Glücksspiel ist, was auch für Turnierpoker gilt. Keinen Zweifel hat der Autor zudem an der Einordnung des Spiels an Geldspielautomaten (auch bei geringen Einsätzen) als Glücksspiel. Auktionen und der Handel an der Börse stellen zwar Spiele mit Zufallseinflüssen dar, gelten aber – in Übereinstimmung mit der Spieltheorie – rechtlich nicht als Glücksspiel, wenn sie für alle Beteiligte einem wirtschaftlichen Zweck dienen. Andererseits gehen Börsenanalysten und Systemspieler nach dem gleichen System vor: Sie sehen Muster und können alles genau erklären – im Nachhinein. Erfolgreiche Systemspiele existieren nicht; erfolgreich ist allenfalls der Verkauf von Büchern über sie. Anschaulich sind die Anforderungen an Zufallsgeneratoren, deren Vormarsch als programmierte Software in Geräten und im Internet unaufhaltsam ist. Und schließlich macht das Verständnis der mathematischen Gesetzmäßigkeiten des Glücksspiels dem Leser deutlich, dass sich Glücksspiele unter idealtypischen Bedingungen einschließlich regelkonformer Spielteilnahme nicht zur Geldwäsche durch Spieler eignen.

Nebenbei werden auch die wechselseitigen historischen Bezüge zwischen Glücksspiel und Mathematik deutlich, beginnend spätestens im 16. Jahrhundert mit dem Aufkommen von Würfelspielen, die Gegenstand mathematischer Werke in der Renaissance auf der Grundlage von Übersetzungen arabischer Werke waren. Die im 17. Jahrhundert verbreiten Kartenspiele und Lotterien haben mathematische Verfahren zu Berechnung von Chancen (Kombinatorik) befördert. Um 1700 hat Jacob Bernoulli, Begründer der mathematischen Stochastik, das Gesetz der großen Zahl gefunden und anhand des Münzwurfs und der einfachen Chancen beim Roulette mathematisch bewiesen. Das Gesetz der großen Zahl bildet seither die theoretische Basis für Versicherungen und Rentenzahlungen, aber auch zur Konstruktion beliebiger Spielregeln und Gewinnpläne von Lotterien, Buchmacherwetten und anderen Glücksspielen. Im Zeitalter der Aufklärung wurde parallel zum Aufkommen des Roulette die Wahrscheinlichkeitstheorie entwickelt, ausgebaut in den 1930er Jahren als exakte axiomatische Wahrscheinlichkeitstheorie. In den 1920er Jahren entstand die Spieltheorie, die heute breite Anwendung als Entscheidungstheorie vornehmlich in der Ökonomie, aber auch in Politik und Soziologie findet. Ende der 1950er Jahre wurde erstmals auf Rechnern die Monte-Carlo-Methode angewendet – für theoretische Voraussagen bei der Entwicklung der Wasserstoffbombe –, basierend auf Permanenzen eines Roulettekessels des Casino Monte Carlo. Zufallsgeneratoren werden heutzutage genutzt für Klimasimulationen, Kryptologie und zur Hochrechnung etwa von Wahlergebnissen. Die Beschäftigung mit Gesellschaftsspielen und Glücksspielen hat die Mathematik befruchtet.

Hinweis:
Der vorstehende Text ist einer Buchbesprechung von RA Martin Reeckmann entnommen. Die Rezension ist in Heft 3/4.16 der Zeitschrift für Wett- und Glücks­spielrecht (ZfWG) erschienen (ZfWG 2016, 281) und auf der Webseite von Dr. Bronder als PDF verfügbar.


21.04.2016

Rituale im Glücksspielwesen


Zur Rezeption des EuGH-Urteils in der Rechtssache Ince

Von Martin Reeckmann

Der Text ist erschienen in: Beiträge zum Glücksspielwesen, 1/2016, S. 4

Im deutschen Glücksspielwesen ist spätestens seit dem Sportwetten-Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 28. März 2006 [1] ein wiederkehrender Effekt zu besichtigen, der stets wie ein Ritual anmutet: Binnen weniger Stunden nach Bekanntwerden einer höchstrichterlichen Entscheidung werden Verlautbarungen unterschiedlichster Stakeholder des Glücksspielwesens veröffentlicht, die sich widersprechende Interpretationen der betreffenden Entscheidung feilbieten. Das jüngste Beispiel bietet das aktuelle Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) vom 4. Februar 2016 in der Rechtssache Ince [2] - immerhin die fünfte Entscheidung des EuGH zum deutschen Glücksspielrecht. Die amtliche Pressemitteilung des EuGH [3] fand sofort auf ISA-GUIDE [4], gewissermaßen dem schwarzen Brett der Glücksspielbranche, Verbreitung und wurde dort noch am selben Tage von sieben Stakeholdern kommentiert. Die Statements bieten eine faszinierende Bandbreite von Lesarten des Richterspruchs; einige stehen deutlich für die Redensart, dass Schönheit im Auge des Betrachters liegt. Dabei scheint mancher Betrachter mit Blindheit geschlagen.

Ausgangspunkt der Betrachtung ist das Urteil des EuGH, der feststellt, dass die Sportwetten-Experimentierklausel des § 10a des Ersten Glücksspieländerungsstaatsvertrages die Unvereinbarkeit des vormaligen Staatsmonopols mit dem freien Dienstleistungsverkehr nicht behoben hat, soweit die alte Regelung unter Berücksichtigung dessen, dass keine Konzessionen erteilt wurden und dass die staatlichen Veranstalter weiterhin Sportwetten veranstalten können, trotz des Inkrafttretens der Reform von 2012 in der Praxis weiter Bestand hat. Dieses Judikat des EuGH kann keinen verständigen Beobachter verwundern, der die vorhergehende Rechtsprechung des EuGH in seinen Urteilen vom 8. September 2010 [5], der nachfolgenden Bewertung durch das Bundesverwaltungsgericht in seinen Urteilen vom 24. November 2010 [6] und schließlich den unanfechtbaren Beschluss des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs vom 16. Oktober 2015 [7] in den Blick nimmt. In der Zusammenschau dieser Gerichtsentscheidungen ergibt sich, dass die Länder mit dem Ersten Glücksspieländerungsstaatsvertrag von 2011 das im Glücksspielstaatsvertrag von 2007 noch enthaltene, aber unionsrechtswidrige Sportwettenmonopol zwar mit der Sportwetten-Experimentierklausel korrigieren wollten, an dieser Aufgabe aber auf halbem Wege gescheitert sind, weil privaten Anbietern bis heute keine Erlaubnis erteilt werden konnte, während das staatliche Oddset mit einem inzwischen marginalisierten Marktanteil als einziges Sportwettenangebot behördlich erlaubt ist im Sinne des § 284 StGB. Es gilt 2016 wie schon 2010 der Anwendungsvorrang des Unionsrechts mit der Konsequenz, dass ihm entgegenstehendes nationales Recht nicht angewendet werden kann – einschließlich strafrechtlicher Sanktionsandrohungen.

Dieser eigentlich klare Befund hat zwei staatliche Landeslotterieunternehmen nicht davon abgehalten, wörtlich von einer Bestätigung des nationalen Rechts zu sprechen. So wertet  Lotto Baden-Württemberg die Entscheidung als klare Bestätigung für den geänderten Glücksspielstaatsvertrag der Bundesländer; der bestehende Glücksspielstaatsvertrag werde seitens des EuGH nicht beanstandet. [8] Ins selbe Propagandahorn stößt Lotto Hamburg, derzeit Federführer im Deutschen Lotto- und Totoblock, mit der Ansicht, dass der EuGH die Europarechtskonformität der Experimentierklausel für 20 Sportwettenlizenzen bestätigt habe, was vor allem für das Verfahren zur Vergabe der 20 Sportwettenkonzessionen gelte. [9] Den Versuch, sich durch das Über-den-Kopf-ziehen einer Decke zu verstecken, kennt man eigentlich nur von Kindern, die noch nicht verstanden haben, dass man auch dann gesehen wird, wenn man selber nichts mehr sieht.

Am entgegengesetzten Ende des Interpretationsspektrums meinen zwei für einen lokalen und temporären Sonderweg der Glücksspielregulierung bekannte Landespolitiker aus dem hohen Norden der Republik, dass vom staatlichen Glücksspielmonopol nach diesem Urteil endgültig nur noch die gut dotierten Versorgungsposten im Lottoblock übrig seien. Mit diesem EuGH-Urteil sei das „Machwerk“ Glücksspielstaatsvertrag endgültig erledigt – schon heute halte sich niemand mehr daran. [10] Die beiden Interessenvertreter der Internetwirtschaft irren sich: Alle standortgebundenen Glücksspielanbieter mit klarer aufsichtsbehördlicher Zugriffsnähe halten sich an die Vorgaben des GlüStV. Das gilt leider nicht für das als „wirkungsvoll“ bezeichnete Sonderrecht des Nordens, denn wie einem Beschluss des Finanzgerichts Schleswig-Holstein vom 17. September 2015 [11] zu entnehmen ist, hat der dort vergeblich um Rechtsschutz nachsuchende Anbieter von Online-Glücksspielen seine Produkte entgegen den Kieler Vorgaben bundesweit angeboten – ungehindert von der dortigen Glücksspielaufsicht.

Eigentümlich auch die Einschätzung der Automatenwirtschaft, die dem Urteil die Auslösung eines Domino-Effekts andichtet, der auch die anderen Regelungen des Glücksspielstaatsvertrages ins Wanken bringe und sogar gänzlich kippen werde. Folgerichtig mahnt Die Deutsche Automatenwirtschaft eine Kurskorrektur in den Spielhallengesetzen an. [12] Hier ist der Wunsch der Vater des Gedankens – verständlich angesichts des bevorstehenden Auslaufens der fünfjährigen Übergangsfristen für die Spielhallengesetzgebung der Länder in diesem und im nächsten Jahr. Allerdings bleibt das Ziel einer sichtbaren Zurückdrängung der Spielhallen nach deren jahrelanger Expansion in Kommunen und Ländern auch dann legitim, wenn man eine Glücksspielregulierung fordert, die nicht mehr auf quantitative Angebotsbegrenzungen, sondern auf die Verbesserung der Qualität in allen Spielangeboten setzt.

Hohe qualitative anstatt quantitativer Marktzugangsbeschränkungen hält zutreffend auch der Deutsche Sportwettenverband für erforderlich. Nicht nur das seit vier Jahren ergebnislos laufende Sportwettenkonzessionsverfahren sei hinfällig, sondern die gesamte gesetzliche Grundlage für Glücksspiele in Deutschland sei reformbedürftig. Zudem müssten die Zuständigkeiten der Länder in der Regulierung und im Vollzug neu geregelt werden. [13]

Die oben skizzierten Statements zum Ince-Urteil des EuGH markieren das Dilemma der Glücksspielregulierung in Deutschland: Die bisher ins Werk gesetzten Staatsverträge – und der vierte kommt alsbald als kleine Reparaturausgabe – arbeiten sich mit schwindendem Erfolg an der Verteidigung des Sportwettenmonopols ab, dass stets eine Fiktion war. "Glücksspielmonopol gekippt" hieß es bereits nach den oben schon erwähnten Urteilen des EuGH vom 8. September 2010. Indes hat ein Glücksspielmonopol in Deutschland nie existiert, weder für Lotterien noch für Spielbanken oder Wetten. Gekippt ist denn auch kein Monopol, sondern der Irrtum über seine mögliche Rechtfertigung. Im Zentrum steht das allseits bekannte staatliche Lotto "6 aus 49", dass die Glücksspielkultur in Deutschland prägt wie kein anderes Angebot: Nur zwei Ziehungen pro Woche und eine niedrige Ausschüttungsquote von 50 Prozent als Preis der Gemeinwohlorientierung kennzeichnen ein Glücksspielprodukt, das vom sicherheitsorientierten deutschen Publikum in rund 22.000 Annahmestellen nachgefragt wird wie kein anderes Glücksspiel – das Sparbuch lässt grüßen. Zur Verteidigung dieser soziokulturellen Typik des deutschen Glücksspielmarkts wurde das konsensual gewachsene Lottomonopol zum Sportwettenmonopol und schließlich zum Glücksspielmonopol mit quantitativen und prohibitiven Grenzen aufgeblasen, dessen fehlende Überzeugungskraft immer mehr hervortritt. So verbietet der Glücksspielstaatsvertrag seit 2008 ausnahmslos alle Casinospiele im Internet. In der Realität betrug der Markt für illegale Online-Casinospiele 2014 (Bruttospielertrag: 884 Millionen Euro) bereits 174 Prozent des legalen Spielbankenmarktes (Bruttospielertrag: 508 Millionen Euro). [14] Wie diese Zahlen anschaulich zeigen, stellt ein schlichtes Verbot, das nur auf dem Papier steht, eben keine Regulierung dar. Den Ländern fehlt unverändert ein zukunftsfähiges Konzept für die Regulierung des Glücksspiels, das sich am Verbraucherschutz orientiert und eine effektive Aufsicht ermöglicht.

Mit Ritualen ist weder den Glücksspielanbietern noch den Verbrauchern gedient. Vielmehr sollte die seit jeher zersplitterte Glücksspielregulierung in Deutschland durch eine an hohen Qualitätsstandards und aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen zum Spielerschutz orientierte Gestaltung des gesamten Glücksspielmarktes verbessert werden. Das Ziel lautet, einen
  • politisch und administrativ anwendbaren,
  • juristisch und wissenschaftlich belastbaren,
  • von maßgeblichen Vertretern aller Glücksspielanbieter, der Wissenschaft, Suchthilfe, –therapie und Politik gemeinsam getragenen,
  • alle Glücksspielangebote umfassenden und 
  • konsequent an einem effektiven Verbraucherschutz orientierten
Regulierungsentwurf zu entwickeln, ohne soziokulturelle Besonderheiten überheblich als musealen Ballast über Bord zu werfen.

_________________
[1] BVerfG, Urt. v. 28.3.2006, 1 BvR1054/01 = BVerfGE 115, 276
[2] EuGH, Urt. v. 4.2.2016, Rs. C-336/14
[3] EuGH, Pressemitteilung Nr. 10/16 vom 4.2.2016
[4] http://www.isa-guide.de
[5] EuGH, Urt. v. 8.9.2010, Rs. C-409/06 Winner Wetter, C-316/07 Stoß u.a., C-46/08 Carmen Media
[6] BVerwG, Urt. v. 24.11.2010, 8 C 13/09, 8 C 14/09, 8 C 15/09
[7] VGH Hessen, Beschl. v. 16.10.2015, 8 B 1028/15
[8] http://www.isa-guide.de/isa-gaming/articles/142861.html
[9] http://www.isa-guide.de/isa-gaming/articles/142887.html
[10] http://www.isa-guide.de/isa-gaming/articles/142864.html
[11] FG Schleswig-Holstein, Beschl. v. 17.9.2015, 5 V 242/14
[12] http://www.isa-guide.de/isa-gaming/articles/142879.html
[13] http://www.isa-guide.de/isa-law/articles/142857.html
[14] Jahresreport 2014 der Glücksspielaufsichtsbehörden der Länder. Der deutsche Glücksspielmarkt 2014 – Eine ökonomische Darstellung, vom 22.12.2015